Ich eröffne auch hierfür einen eigenen Thread, da es nicht auf Tabakaktien beschränkt ist. Es klingt sehr plausibel, daß es eine "Non-ESG-Prämie" geben sollte, d.h. eine bessere (zu erwartende) Aktienrendite bei Firmen, die gerade nicht die (willkürlichen) ESG-Kriterien erfüllen, weil deren Wertpapiere weniger nachgefragt werden und folglich mit nicht rational gerechtfertigtem Abschlag notieren - eben durch die nur moralisch begründete Anlegerpräferenz. Bei Anleihen hat Andreas Beck diesen Effekt benannt: Die Anleihen von Non-ESG-Firmen rentieren mit Aufschlag relativ zu ihrem Rating.
https://www.finbridge.de/ml-artikel/202…ihen-esg-teil-2
Die Frage wäre, ob es das bei Aktien analog auch gibt, und ob dieser Effekt auch unabhängig vom Value-Effekt besteht, oder vollständig durch diesen erklärt werden kann. Mit etwas Nachdenken kann es doch eigentlich nur so sein, daß er zusätzlich besteht. Denn der Value-Effekt kommt vor allem zustande, weil die Anleger Aktien, die (an sich begründeterweise) weniger aussichtsreich sind, unverhältnismäßig abstrafen, sprich: "günstig" ist im Mittel zu günstig. ESG hat aber damit nichts zu tun, prinzipiell kann jede Branche nicht-ESG-konform sein, ob Wachstum oder Value, auch wenn z.B. Tabak und Öl an sich schon eindeutig in die Kategorie Value fallen und es wahrscheinlich auch einen tendenziellen Zusammenhang gibt, d.h. daß typischerweise gerade solche Firmen als nicht-ESG-konform eingestuft werden, die ohnehin keine allzugroße Zukunft haben. Dennoch könnte auch ein Geschäftsmodell, das an sich (rationalerweise) höhere Bewertungskennzahlen verdient, abgestraft werden und wird dann immer noch eine relativ hohe Bewertung haben - diese Aktie wird aber eine bessere Renditeerwartung haben als eine vergleichbar bewertete Aktie. Also: Non-ESG-Aktien verglichen mit bewertungsmäßig gleichen ESG-Aktien sollten besser performen.
Zu bedenken ist erstens, daß sich das vielleicht sinnvollerweise nur auf die Faktoren "E" und "S" bezieht, also Geschäftsmodelle wie Tabak, Alkohol, Öl, Rüstung, Pornografie oder Glücksspiel, insoweit man denn ein Investment mit dem eigenen Gewissen vereinbaren kann, und weniger auf den Faktor "G", wegen dem eher einzelne Firmen in die Kritik geraten, zumindest wenn damit nicht Dinge wie fehlende Frauenquoten im Vorstand gemeint sind (diesbezüglich dürfte die ESG-Einhaltung sogar an sich schon schädlich sein), sondern schlechte Unternehmensführung im Sinne fehlender Integrität des Managements oder fehlender Einhaltung von Vorschriften. Bei letzteren Punkten kann ich mir gut vorstellen, daß sie die Aktienperformance negativ beeinflußen. Wer will schon eine Aktie, bei der man als Streubesitz übers Ohr gehauen wird! Allenfalls, wenn sie entsprechend günstig ist. Das gehört aber dann eigentlich zum Faktor Qualität (der auch mal ein Thema wäre). Das dürfte aber ohnehin kaum eine Rolle spielen bei der Vergabe der ESG-Siegel - bei Wirecard haben ja nicht einmal die Wirtschaftsprüfer etwas bemerkt und die ESG-Tanten hätten allenfalls ein Problem mit dem Pornogeschäft gehabt und nicht mit zweifelhafter Bilanzierung.
Anmerkung: Es ist zwar nicht gänzlich abwegig, daß die Einhaltung einiger "E"- und "S"-Kriterien in letzter Konsequenz auch finanziell nachhaltiger ist, weil die Verbraucher die eigenen Produkte bevorzugen oder die Firmen weniger von künftigen Regulierungen negativ betroffen sein werden etc., aber dieser Vorteil dürfte mehr als eingepreist sein, wie es halt mit Wachstum in der Regel auch geschieht. So gesehen sind Non-ESG-Branchen ein idealtypischer Jagdgrund für Antizykliker.
Zu bedenken ist zweitens bei historischen Untersuchungen eventuell auch, daß das Thema noch relativ neu ist, auch wenn es bei den Tabakaktien gerade im amerikanischen Raum wohl schon lange eine Rolle spielt, weil manche institutionellen Anleger nicht in solche Aktien investieren mögen. Jedenfalls könnte, so denke ich mir, solange sich der ESG-Abschlag überhaupt erst allmählich aufbaut, die Performance schlecht sein. Der zunehmende Abschlag belastet eben die Kurse, und das überwiegt erstmal. Erst wenn er seine volle Größe erreicht hat, wird er sich in meßbar höheren Renditen niederschlagen. Aus diesem Grund könnte es sein, daß das bisher noch nicht empirisch feststellbar war. Oder daß umgekehrt sogar ESG-Aktien eine zeitlang eine Outperformance erzielen. Tatsächlich liest man soetwas auch, sofern man denn überhaupt etwas zu diesem Thema findet. Für letzteres wird auch weitaus mehr Marketingnachfrage bestehen - weil es schließlich naturgemäß mehr ESG-Fonds gibt als dedizierte Non-ESG-Fonds. Auch könnte das Thema als Forschungsgegenstand nicht gerade politisch korrekt sein bzw. nur insofern das politisch gewünschte Ergebnis herauskommt.