Einen Staat Ukraine in der heutigen Form gab es zum ersten mal mit der Auflösung der Sowjetunion. Die Krim wurde 1954 auch nicht einem souveränen Staat zugeschlagen, sondern - zudem ziemlich willkürlich - einer Sowjetrepublik und war damals faktisch bedeutungslos. In etwa so, als ob man den Bodeseekreis von Baden-Württemberg nach Bayern umgliedern würde. Historisch ist die Krim nach einer wechselvollen Geschichte seit vielen Jahrhunderten ein Teil Russlands. Ca. 60% der Einwohner sind ethnische Russen, nur ein Viertel Ukrainer. Vor der Eroberung durch Russland lebten dort im wesentlichen Krimtartaren, die heute noch ca 12 % der Bevölkerung ausmachen. Der russische Standpunkt ist also absolut nachvollziehbar. Und wie Balkenchart schon sagte: eine Volksabstimmung der dortigen Bevölkerung würde mit Sicherheit immer wieder zu Gunsten Russlands ausfallen.
Also das sehe ich eben als sehr schwierig an. Es wird immer irgendwelche Begründungen geben, warum etwas historisch dorthin oder dorthin gehört. Warum nicht zu den Krimtataren? Oder, wie es scheinbar auch manche gerne hätten, gleich einen unabhängigen Staat. Übrigens, je mehr ich darüber nachdenke, vielleicht wäre das ein Kompromiss. Hergeben will es ja keiner. Müsste dann aber ebenfalls höchst neutral sein, was aber kaum vorstellbar ist, nachdem Russland dort stationiert ist.
Dazu auch nochmal, Russland hatte auf der Krim Land gepachtet, also das spricht für mich sehr dafür, dass sie anerkannt hatten, dass es nicht ihr Staatsgebiet ist.
Ansonsten, klar, den Standpunkt nachvollziehen, das kann ich ja auch. Aber die Frage ist halt dann, wie geht es weiter. Wp hatte irgendwo kürzlich das Beispiel mit dem Schulhof, das war zwar glaube ich bzgl. Türkei, aber passt hier auch. Da mag auch jemand einen nachvollziehbaren Standpunkt haben, aber wenn er deshalb jemanden zusammenprügelt, macht es das vertretbar? Also sowohl das Verprügeln als auch sein Anliegen vertretbarer?
Ich meine nein. Und das ist für mich der entscheidende Punkt und auch das, was ich gemeint hatte, dass ich generell gegen neue Grenzziehungen bin. Das bezieht sich vor allem auf Grenzziehungen, die mit Gewalt durchgesetzt werden.
Musterbeispiel ist für mich Schottland. Das ging sauber durch die Parlamente und man hatte eine Abstimmung. Friedlich. Ob man dann nach EU-Austritt nochmal eine bekommt, dahingestellt. Aber es geht friedlich zu.
Bei Katalonien ist dagegen, nach meinem Eindruck, zum Teil schon deutlich mehr Aggression im Spiel. In der spanischen Verfassung steht meines Wissens nach eindeutig, dass eine Abstimmung nur zulässig ist, wenn alle anderen zustimmen. Egal wie, ich finde es nicht gerechtfertig, dass Gewalt ausgeübt wird, um sowas durchzusetzen. Dafür geht es uns hier einfach zu gut, wird ja keiner unterdrückt meine ich.
Auf der Krim nun, will ich keinen Standpunkt abweisen, aber wer Krieg führt und militärisch aktiv wird, der macht sein Anliegen bei mir damit nicht vertretbarer. Auch wenn eine Abstimmung offensichtlich unter Druck durchgeführt wird und auch gefälscht (will nicht den Ausgang generell anzweifeln, aber die Durchführung war nicht in Ordnung und das Ergebnis zu hoch). Wie gesagt, die Nachvollziehbarkeit des Anliegens mal ganz dahingestellt, deshalb finde ich Krieg als Durchsetzung nicht vertretbar. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, auch wenn es vielleicht naiv klingt. Aber man sollte schon trotzdem Ideale haben meine ich.
Und dann bin ich eben gegen neue Grenzziehungen, vor allem militärisch. Denn wenn sowas funktioniert, sehen es andere und denken sich, ja toll, dann kann ich mir auch was holen. Finde nicht, dass man sowas tolerieren oder noch fördern sollte, indem man das anerkennt oder stillschweigend akzeptiert.
Ich bin da auch bei wp, ich sehe da kaum ein richtig und falsch, fair oder unfair. Es ist in der Realität fast immer das Recht des Stärkeren und der Rest sind Argumentationen. Man kann für fast alles Argumente finden. Ist es schräg, dass das mehrheitlich kulturelle und deutschsprachige Südtirol zu Italien gehört? Ja, sicher. Aber es passt. Sie haben ihre Autonomie bekommen, ich glaube die Leute sind zufrieden. Trotzdem, Österreich hätte doch ein ähnlich nachvollziehbares Anliegen wie Russland bei der Krim, wenn es Südtirol gern hätte, nein? Oder viele Leute dort. Aber das ist nicht die einzige Dimension meine ich. Ganz oben ist Stabilität und Frieden, nicht ob irgendjemand meint, er hätte Anspruch auf ein Gebiet und setzt das gewaltsam durch. Meine Meinung.
Aja, Abstimmung. Ich persönlich bin da gar nicht so sicher. Ich sage, dass ich es einfach nicht weiß. Aber eins mal. Wenn die Ukraine irgendwann in die EU kommen würde (was natürlich durch die Entwicklungen sowieso extrem zurückgeworfen wurde und auch egal, was man generell davon halten mag), dann hätten die Leute auf der Krim eine Aussicht auf Grundwerte und Grundfreiheiten der EU gehabt, also z.B. freier Personenverkehr. Das war alles natürlich noch Zukunftsmusik, aber ich halte es für durchaus vorstellbar, dass vielen diese Optionen evtl. mehr zugesagt hätten, als ein anderer Staat und eine andere Verwaltung, der in der Mehrheit angeblich etwas mehr ihrem Nationalitätsgefühl entspricht. Ich will damit sagen, dass ich unterstelle, dass viele Leute mehr auf ihren Geldbeutel und ihre materielles Wohlergehen schauen, also es mehr darum geht, was sie sich davon versprechen. Das war damals Zukunftsmusik, aber natürlich ging der Konflikt in seinem Ursprung um Orientierung an EU vs. Russland.
Lange Rede, kurzer Sinn. Ich finde es sehr schwierig. Ich verstehe Russlands Standpunkt, aber der verliert für mich mit jeder Aggression weiter an Plausibilität. Natürlich, es ist für mich mit dem was man hier mitbekommt, nicht unbedingt leicht, das umfassend zu beurteilen. Jeder behauptet, die andere Seite ist aggressiv. Aber was die Krim betrifft, das war offensichtlich. Da sind Leute gestorben, das war Krieg. Und natürlich auch in den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine.
Aja, und wenn dort immer gesagt wird, die NATO muss sich zurückziehen, etc. Die dürfen da nichts aufstellen, weil das zu nahe an Moskau ist, usw. Das gilt dann sicher auch für die andere Seite? Da kann man dann sicher auch verstehen, dass sich viele Länder in Osteuropa da ebenfalls bedroht fühlen? Nur, viel verständlicher und ernsthafter, weil sie viel kleiner sind und militärisch nicht ansatzweise vergleichbar. Also, wie gesagt, naja, ist alles was für'n Debattierclub.
Unabhängige, neutrale Krim. Das wär noch was schönes. Aber, da muss man eben auch mal ehrlich sein, aus russischer Seite. Man will das nämlich scheinbar auch nicht. Dass sich eine solche Region selbst aussucht, sie würde sich gerne Richtung EU orientieren. Naja, die Lage ist ja sicher nicht so schwierig, weil die Hintergründe so simpel sind.. Aber es würde mal sinnvoll sein, sich Zusammenzusetzen und ganz umfassend zu reden und Abkommen zu verhandeln. Aber evtl. ohne Armee an der Grenze, um nebenher ein bißchen zu drohen. Ich bin ein großer Fan des Spruches: "Speak softly and carry a big stick." Dazu gehört aber auch "speak softly" und "carry", nicht laufend drohen und den Stock schon ausholen..