Winters Lektionen in Antizyklik

  • Eine Mischung aus einem provokanten Spaß und Ernsthaftigkeit. Es scheint gerade notwendig angesichts der Heiligenverehrung, für einen - so fürchte ich - falschen Propheten. Es fühlt sich an wie in "Die Körperfresser kommen", man weiß nicht mehr, wer auch schon alles von den Body Snatchers infiziert wurde. Aber gut, das ist eigentlich der Normalzustand als Antizykliker.

    Ich werde gelegentlich weitere Weisheiten ergänzen.


    #1: "Es geht beim antizyklischen Investieren nicht darum, wunderbare Unternehmen zu kaufen, sondern unbeliebte oder unbeachtete Unternehmen zu Spottpreisen."


    Alleine schon deswegen, weil die allermeisten Investoren gar nicht zuverlässig beurteilen können, ob ein Unternehmen wunderbar ist und gleichzeitig nicht überbewertet. Dagegen ist viel leichter zu festzustellen, ob es billig ist. Quality Investing hatte einen langen Run, aber ich fürchte, es ist viel zu sehr ein 'crowded trade' geworden. Das bedeutet nicht, daß Qualitätskriterien völlig außen vor bleiben müssen, aber das Primäre sollte immer die Bewertung sein, die für sich betrachtet günstig sein muß.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • Das führt gleich zum nächsten Punkt. Sicher zugespitzt und nicht als definitive Wahrheit zu verstehen, sondern als Tendenz.


    #2: "Vergeßt den 'circle of competence'. Der Kreis sollte alles sein und die Kompetenz ist gemeinhin der am meisten überschätzte Faktor an der Börse. Die Psychologie ist viel eher eine Alpha-Quelle."


    Überlegung: Die Märkte sind bezüglich frei zugänglicher Information relativ effizient, wodurch es schwer ist, durch Fachwissen einen Vorteil zu erlangen. Das gilt auch, was die Einschätzung von Management und Geschäftsmodell etc. angeht. Es ist vielleicht nicht unmöglich, aber das schaffen nur die Allerbesten und eher in Nebenwerten. Wäre es anders, würden Profis Überrendite erzielen. (Wir reden nicht über Leute, die z.B. an der vordersten Front der Biotechforschung tätig sind)


    Dieser Irrtum ist deswegen so verbreitet, weil das vom realen Leben auf die Börse übertragen wird. Der Unterschied liegt in der Rückkopplung über den Preis. Wenn es um die Einschätzung der Bedeutung der mRNA-Technologie oder der Entwicklung der künstlichen Intelligenz an sich geht, ist es natürlich was anderes, da braucht man mich nicht ernstnehmen. Hingegen können systematische kognitive Verzerrungen [oder der Herdentrieb], z.B. ein kollektiver Wahn bzgl. der Biontech- oder NVidia-Aktie, sehr wohl zu Ineffizienzen führen.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

    Einmal editiert, zuletzt von Winter ()

  • ... und eine einfache Möglichkeit, die negative Stimmung/Unbeliebtheit einer Aktie zu messen, sind die klassischen Bewertungskennzahlen.


    #3: "Denke nicht wie ein Eigentümer, sondern wie ein opportunistischer Spekulant."


    Eigentlich nur eine negative Aussage. Wir sind als reine Finanzinvestoren keine selbst wertschaffenden Unternehmer, sondern anonyme, passive Frühstücksdirektoren und sollten uns nichts anderes anmaßen. Wir brauchen keine Businessphilosophie oder Ethik und schon gar keine Lebensphilosophie.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • Verwandt, wie überhaupt alle Punkte miteinander zu tun haben und nur zusammen Sinn ergeben:


    #4: "Betrachte eine Aktie nicht als Beteiligung an einem Unternehmen, sondern rein als Wertpapier, mit einer Exit-Bewertung und einem begrenzten Zeithorizont."


    O'Shaughnessy berichtete von einer Studie (war es "Factors from Scratch" vom Pseudonym Jesse Livermore?), daß die Überrendite von Value-Aktien ausschließlich durch das Rerating zustandekommt, d.h. durch die Bewertungsnormalisierung/reversion to the mean.

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  • Dabei ist die Dauer des Investments von entscheidender Bedeutung für die annualisierte Rendite.


    #5: "Überlasse das langfristige Denken den Vorständen. Für immer ist nimmer eine bevorzugte Halteperiode für antizyklische Investments. Der Gewinn für Antizykliker liegt in der mittleren Frist, typischerweise zirka 3-5 Jahre."


    Natürlich kann man auch z.B. fest schon nach einem Jahr durchwechseln. Das ergibt Sinn für mechanische Strategien, die rein auf die TTM-Kennzahlen abstellen. Wenn man die Fundamentalzahlen etwas länger normalisiert, bietet sich entsprechend ein Erwartungswert von mehreren Jahren an. Die Börse schaut oft nur auf die nächsten 6-12 Monate, so daß es meist mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, bis ein antizyklischer Investmentcase aufgeht. Gleichwohl kann es natürlich passieren, daß man ein Investment wider Erwarten sehr viel länger im Depot hält, z.B. wenn es billig bleibt und zugleich hohe Dividenden ausschüttet.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • (... Auch Buffett praktiziert das übrigens so, ganz im Gegensatz zu seinen Äußerungen.)


    #6: "Es geht nicht darum, das 'richtige' Unternehmen zu kaufen und womöglich noch zu jedem Preis zu halten, sondern mehr darum, zum richtigen Zeitpunkt zu kaufen und zu verkaufen. Kurz: Timing ist alles."


    Timing ist oft verschrien als Market-Timing im Sinne von entweder im Markt zu sein oder draußen. Dabei gibt es schon auf der Marktebene viele Alternativen: verschiedene Länder, aber auch Assetklassen wie Anleihen, Edelmetalle, Immobilien oder auch Sondersituationen - und ja, auch Cash. Irgendwas ist fast immer günstig. Und auch Stockpicking ist am Ende Timing! Stets die beste Opportunität wahrzunehmen ist rationales Verhalten; das Festhalten an Compoundern zu jedem Preis ist es nicht. Wer Coca-Cola 1998 zu KGV 50 oder (trotz beeindruckender Performance) secunet oder Hypoport selbst bei KGV 100 nicht verkaufen wollte, hätte das besser befolgt.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • #7: "Antizyklisches Investieren gehört typischerweise zur 'I don't know'-school im Sinne von Howard Marks und ist so gesehen inhärent intellektuell bescheiden."


    Und damit das genaue Gegenteil des GARP-Investings. Was freilich nicht bedeutet, nicht eigenständig zu denken und sich nicht klar gegen die Mehrheit zu positionieren. Das ist schließlich notwendig, um überhaupt überdurchschnittlich abschneiden zu können.


    Daraus folgt zwingend:


    #8: "Eine vernünftige Diversifikation liegt etwa zwischen mehr als zehn und höchstens 50 Positionen."


    Die Frage nach der Diversifikation ist nicht einfach und nicht auf die Zahl der Einzelwerte bzw. der Positionsgröße beschränkt, da es auch auf Korrelationen ankommt und auch von den Einzelwerten abhängt.

    Wer jedoch mehr als vielleicht allerhöchstens 20% des Depots in einer einzigen Aktie hält, zeigt Overconfidence und/oder ist ein Hasardeur, sofern er nicht Charlie Munger ist (unwahrscheinlich seit seinem Tod) oder selbst Unternehmer (vgl. #3). Die Tatsache, daß eine Position von alleine auf diese Größe gewachsen ist, ist keine Rechtfertigung dafür, das ist ein typischer kognitiver Fehler und irrational. Wer hingegen mehr als 50 Positionen hält, wäre wahrscheinlich mit einem passenden ETF besser dran, falls ein solcher existiert.

    Typisches Negativbeispiel ist Rob Vinall, der sich einmal rühmte, 30% des Depots in Grenke gehalten zu haben. Er hat zwar wohl rechtzeitig verkauft, aber sicherlich nicht deswegen, weil er die Shortattacke vorhergesehen hatte. Egal ob diese nun berechtigt war oder nicht: Es kann immer alles passieren, zumindest wenn man nicht selbst Chef ist (und selbst dann noch). Eigentlich disqualifiziert sich jemand alleine schon damit als nachzuahmender Investor, und erst recht, wenn er bereits einen oder mehrere Totalausfälle zu verzeichnen hatte.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • #9: "Sei skeptisch gegenüber vermeintlichem Dazulernen. Die wirklich wichtigen Erkenntnisse sind zeitlos und relativ einfach und schnell zu verstehen. Darüber hinaus geht es vor allem darum, diese nicht zu verlernen - nämlich indem man sie verwässert mit empirisch Unfundiertem."


    Schließlich muß man weder, noch kann man jeden Investmentansatz zugleich vertreten. Natürlich kann es einmal neue Erkenntnisse geben, gegen die man sich nicht immunisieren muß. Aber die Beispiele derer sind Legion, die vom rechten Glauben abgefallen sind - offenbar ist Deep-Value-Investing zu einfach? Warum sich auch mit einfachst zu erreichenden 10% p.a. Überrendite zufrieden geben, wenn man auch aufwendig 5% erzielen kann?! Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem die erste Version der Matrix nicht angenommen wurde? Oder die Leute lieben eben logisch klingende Geschichten?

    Und ja, auch ich bin auch nicht immer ganz fromm, schon weil ich gar keine heiligen Dogmen vertrete.

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • Und scheint's konnte niemand besser Geschichten erzählen als Munger.


    #10: "Vermutlich die einzige Lektion, die Antizykliker von Charles Munger lernen können, ist daher: 'Invert, always invert', und zwar übersetzt mit 'ins Gegenteil verkehren', und das bezogen auf seine sonstigen Weisheiten."


    Ich stelle zwar nicht in Abrede, daß er bestimmt schlau war und zu seiner Zeit auch erfolgreich, aber die wenigsten seiner Follower dürften annähernd seine Rendite erreichen. weil es schwierig ist, das zu replizieren. Es ist nebenbei ein ziemlich bizarrer Kult. Und damit vorläufig Ende dieser Provokation.

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  • #9: "Sei skeptisch gegenüber vermeintlichem Dazulernen. Die wirklich wichtigen Erkenntnisse sind zeitlos und relativ einfach und schnell zu verstehen. Darüber hinaus geht es vor allem darum, diese nicht zu verlernen - nämlich indem man sie verwässert mit empirisch Unfundiertem."


    Schließlich muß man weder, noch kann man jeden Investmentansatz zugleich vertreten. Natürlich kann es einmal neue Erkenntnisse geben, gegen die man sich nicht immunisieren muß. Aber die Beispiele derer sind Legion, die vom rechten Glauben abgefallen sind - offenbar ist Deep-Value-Investing zu einfach? Warum sich auch mit einfachst zu erreichenden 10% p.a. Überrendite zufrieden geben, wenn man auch aufwendig 5% erzielen kann?! Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem die erste Version der Matrix nicht angenommen wurde? Oder die Leute lieben eben logisch klingende Geschichten?

    Und ja, auch ich bin auch nicht immer ganz fromm, schon weil ich gar keine heiligen Dogmen vertrete.

    Extra Daumen hoch für diesen hier.


    Richtig!

    Antizyklisch Investieren ist eindeutig was für Faule!
    Einer der Gründe warum ich es so mag.


    Wie du es schreibst, die Versuchung zu verschlimmbessern ist hoch. Ich denke die kommt daher dass man schnell Erfolge hat und es dann menschlich ist die auf sein eigenes vermeintliches "Genie" zu beziehen. Und dann denkt man: Wenn ich jetzt noch mehr Genie reinbutter, bin ich morgen reich, überspitzt gesagt natürlich. Also simple overconfidence.


    Plus Börse macht halt Freude. Man WILL gerne mehr Zeit mit dem Erforschen und Verbessern verbringen. Du ja auch, hast ja oft erwähnt dir fehlten die Diskussionen.
    Dieser Faden ist so gesehen ein sehr geschickter Weg den Spaß zu haben (indem man an sich Altes neu und klar destilliert) ohne Gefahr zu laufen etwas umzustoßen!


    Gefällt mir.

    "Nicht Völker führen Kriege gegeneinander, sondern Regierungen führen Kriege gegeneinander"

    "If you act out of fear, anger, despair or suspicion - this will ruin everything." - Thich Nhat Hanh


  • Und damit vorläufig Ende dieser Provokation.

    schade.

    Ich habe deine Lektionen gerne gelesen und an allen Punkten ist etwas wahres dran. Daher war das keine Provokation sondern Antizyklik at its best. Nicht nur bezogen auf die Aktienwahl sondern auch bezogen auf diverse Börsenweisheiten, die du hinterfragst.

  • Ich glaube, Winter meinte nur das Thema Munger.


    Klugheit ist ganz schwierig zu kopieren ^^

    Das will ich hoffen.


    Denn es gibt noch ein paar Punkte.


    Also lieber weiter machen Winter , sonst spammen wir anderen hier weiter ;-)

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  • Also ich wäre schon so weit erstmal durch. :saint:

    Sind passenderweise gerade 10 Gebote. Klar, man könnte noch mehr schreiben, ernste und provokative ("Don't just do something, sit there!"), aber die Punkte, die direkt in Widerspruch stehen zu einer bekannten Philosophie, habe ich glaub genannt.


    Aber es kann ja noch andere Evangelisten geben. Bevor ich euch jetzt noch mit meinen Weisheiten zu anderen gesellschaftlichen Themen auf die Nerven gehe: Also bitte, das antizyklische Evangelium nach ____:

    „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht." – Benedikt Lux, Grüne Berlin

  • Also ich wäre schon so weit erstmal durch. :saint:

    Sind passenderweise gerade 10 Gebote. Klar, man könnte noch mehr schreiben, ernste und provokative ("Don't just do something, sit there!"), aber die Punkte, die direkt in Widerspruch stehen zu einer bekannten Philosophie, habe ich glaub genannt.


    Aber es kann ja noch andere Evangelisten geben. Bevor ich euch jetzt noch mit meinen Weisheiten zu anderen gesellschaftlichen Themen auf die Nerven gehe: Also bitte, das antizyklische Evangelium nach ____:

    Och ich find das Format witzig, mich würde es nicht nerven dazu auch zu anderen Themen was zu hören.

    Oder von anderen Foristen.


    Landos Weisheiten zum praktischen Umgang mit der aktuellen Politik oder so fände ich auch spannend! (No offence Lando meine ich ernst!)

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