Nochmal ein Thread zum Thema Zinsen und Anleihe-Renditen. Vorweg gesagt: Bei näherer Betrachtung sind meine Überlegungen verstörend, vor allem für Anleger, die hoffen, mit verzinsten Anleihen Rendite zu erwirtschaften.
Starten wir bei der gewohnten Einschätzung. Diese lautet: Zinsen führen zu einer Geldvermehrung (Kapital-Akkumulation). PUNKT. Absolut logisch: Ich verleihe 1.000 Euro zu derzeit 3,5% Zins an den Staat und bekomme nach einem Jahr 1.035 Euro zurück. Klare Sache: Das Kapital hat sich vermehrt, wir haben eine Kapitalakkumulation. Falls (wie meist der Fall) Geld an den Staat verliehen wird, gilt diese Form der Kapitalakkumulation als risikolos.
Das Schema führt über den Zinseszins-Effekt zu exponentiell zunehmenden Einnahmen. Die bisher aufgelaufenen Zinsen verzinsen sich zusätzlich. Bei zunehmender Anlagedauer potenziert sich der Effekt. Als Extremfall steht der berühmte Josephspfennig, d.h. seit dem Jahr Null aufgelaufene Zinsen auf einen mickrigen Pfennig, die per Zinseszins-Effekt zu einem Vermögen führen, das höher ist, als das Gewicht der Erde, in Gold aufgewogen.
Diese mathematisch tadellose Kalkulation provoziert Katastrophen-Szenarien: Zins und Zinseszins führen zu einer extremen Kapitalakkumulation bei denjenigen, die als Kreditgeber auftreten, die Kreditgeber werden immer reicher. Die Kapitalakkumulation ist außerdem exponentiell. Da exponentielles Wachstum auf Dauer unmöglich ist (sh. Josephspfennig), muss das Zins-System irgendwann an seine Grenzen stoßen und zu einem abrupten Systemkollaps führen. Diverse Zins-Kritiker prognostizieren an diesem Wendepunkt Krieg, Chaos und Anarchie, ausgelöst durch extreme Wohlstandsunterschiede zwischen Kreditgebern / Zinsempfängern einerseits, und Zinszahlern andererseits.
Um dieses unausweichliche Katastrophen-Szenario abzuwenden, fordern diverse Zinskritiker die Abschaffung der Zinsen.
Die resultierenden zinslosen Wirtschaftsräume sind - nach Meinung der Zinskritiker - inflationsfrei und provozieren dadurch wiederum das Horten von Bargeld. Neben der Abschaffung der Zinsen empfehlen sie deshalb zusätzliche Maßnahmen wie Steuern auf Bargeld (die berühmte Liquiditätsgebühr). Letztere wiederum erfordert - zur Verhinderung von Kapitalflucht - die Kontrolle von Kapitaltransfers ins Ausland, sowie zur Verhinderung einer Flucht in arbeitslose Einkommen aus Immobilien di- e- Besteuerung von Grund und Boden. Diese Zwangsmaßnahmen stimulieren letztlich den Kapitalfluss in produktive Wirtschaftsbereiche, beseitigen die Inflation, verhindern ungerechte Kapitalakkumulation und unsoziale Zinseinnahmen aus arbeits- und riskolosem Einkommen.
Soweit die Theorie, nachzulesen z.B. bei der Architektin Margrit Kennedy unter http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/kennedy/. Die Kurzfassung aus der Feder von Frau Kennedy:
ZitatDieser [Zins-]Mechanismus [führt] zur Akkumulation von Kapital in den Händen von zunehmend weniger Menschen und [hat] damit in der Vergangenheit zu unzähligen Fehden, Kriegen und Revolutionen geführt. & Heute ist der Zinsmechanismus eine Hauptursache für den pathologischen Wachstumszwang der Wirtschaft mit allen bekannten Folgen der Umweltzerstörung.
Die Bösen sind klar benannt: Reiche, die über Zinsen Kapital akkumulieren, bis das dadurch zu exponentiellem Wachstum gezwungene System kollabiert.
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Die beschriebenen Mechanismen scheinen geradezu naturwissenschaftlichen Gesetzen zu unterliegen. Die Katastrophenszenarien lösen sich aber in Nichts auf, wenn man - völlig unspektakulär - zwei Faktoren aus der Realität in die Kalkulation einbezieht: Inflation und Steuern. David Dreman nannte sie die apokalyptischen Reiter für jeden Anleger. Warum?
Jeremy Siegel (Stocks for the long run, S. 15) ermittelte für die USA in der gesamten Nachkriegsperiode (1946 - 1997) nach Inflation und vor Steuern niederschmetternd niedrige Anleiherenditen: für langfristige Staatsanleihen 1,1% p.a., und für kurzlaufende Staatsanleihen 0,5% p.a.
David Dreman (Contrarian investment strategies, the next generation, S. 309) kommt für die US-Nachkriegszeit (1946 - 1996) auf folgende Renditen nach Inflation und nach Steuern: Für Bonds jährlich -1,8% und für T-bills jährlich -1,7%, also systematisch negative (!!!) Renditen und Substanzschwund. Keine Spur von Kapitalakkumulation, auch wenns der Theorie widerspricht.
Auch für Deutschland (1967 - 1998) fand Stehle bei Berücksichtigung von Inflation und Steuern negative Renditen für Anleihen: http://www.wiwi.hu-berlin.de/f…al/Forschung/dax_rexp.pdf
Ich hatte diese Befunde bereits an anderer Stelle in diesem Forum zitiert. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Natürlich kann man, z.B. in Zeiten fallender Zinsen und steigender Anleiherenditen, mit Anleihen phasenweise Geld verdienen. Langfristig aber klappt das offenbar nicht, und langfristig führen Anleihen offenbar nicht zu einem realen Vermögensaufbau.
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Jetzt wirds für Zinskritiker (und nicht nur diese...) verrückt: Wenn Investoren (Gläubiger) unterm Strich mit Anleihen kein Geld verdienen, sondern Vermögen verlieren, dann folgert daraus zwingend, daß der entsprechende Gegenspieler (in der Regel der Staat mit seinen Staatsanleihen) unterm Strich als Schuldner Geld verdient! M.a.W.: Der Staat zahlt zwar Zinsen, macht aber unterm Strich ein Geschäft damit. Zugegeben: Das stellt so ziemlich jede gängige Vorstellung auf den Kopf und provoziert diverse Fragen:
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Frage 1: Wer ist so dämlich, in Staatsanleihen zu investieren, wenn er damit Geld verliert?
Hierzu fallen mir verschiedene Antworten ein:
a) Viele Anleger sind nicht in der Lage, zwischen Nominal- und Realverzinsung zu unterscheiden.
b) Inflation mit Zinseinkünften ist ein kleineres Übel, im Vergleich zu Inflation ohne Zinseinkünfte.
c) Staats-Anleihen werden mit immensem Werbe-Aufwand als risikolos verkauft. (Vermutlich wider besseres Wissen siehe z.B. Wertverfall von Staatsanleihen in Reichsmark.)
d) Der Staat zwingt Großanleger per Gesetz dazu, Staatsanleihen zu kaufen.
Punkt d) wäre besonders brisant, und mir sind bisher zwei Indizien in diese Richtung aufgefallen:
- In der Schweiz muss jeder Bürger zwingend einen bestimmten Prozentsatz seines Einkommens für die eigene Altersversorgung sparen die sogenannte zweite Säule. (Die erste Säule ist die umlagefinanzierte Rentenversicherung, wie wir sie in Deutschland kennen.) Die entsprechenden Anlagegelder der 2. Säule werden privatwirtschaftlich von Finanzinstituten (Banken etc.) gemanagt und angelegt. Der Clou hierbei: Per Gesetz ist der Aktienanteil für diese Zwangs-Ersparnisse auf 50% beschränkt, d.h. die Finanzinstitute müssen einen Großteil der gigantischen Summen in Anleihen anlegen.
- In Deutschland scheint es ähnliche Vorschriften zu geben. In der aktuellen B:0 (Nr. 34, S. 27) gibt es ein Interview mit dem Allianz-Vorstand Joachim Faber.
ZitatFrage: Werden dann die Versicherer ihre Aktienquoten wieder erhöhen?
Antwort: Von der Vermögensaufteilung her wäre es angebracht. Aber angesichts der neuen Bilanzierungs- und Solvenzregeln gibt es leider kaum Spielraum. & Daher werden europäische Versicherer in den nächsten Jahren nicht groß in Aktien investieren, was aus Allokationssicht falsch ist.
Nebenbei bemerkt: Die Allianz Versicherung verwaltet ein Anlagevermögen von 1,07 Billionen Euro. Per Gesetz muss ein Großteil dieser 1.070 Milliarden Euro offenbar in Staatsanleihen angelegt werden.
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Frage 2: Wie funktioniert das System aus Sicht des Staats?
Auch hier fallen mir spontan wieder mehrere Antworten ein:
a) Die Inflation muß angeheizt werden. Man erhöhe z.B. die Steuern und Abgaben auf Benzin, Tabak, Alkohol, Abgase, Müllabfuhr, Mehrwertsteuer, usw usf.
b) Größere Zinseinkünfte müssen voll besteuert werden z.B. im Gegensatz zu Aktiengewinnen (nach Spekufrist) oder Dividenden (Halbeinkünfte-Verfahren).
c) Ein progressives Steuersystem mit entsprechenden Grenzsteuersätzen sorgt für optimale Besteuerung von zusätzlichen Zinseinkünften und treibt per Inflation immer mehr Bürger in den Spitzensteuersatz.
d) Je höher die Staatsschulden, um so besser, falls Inflation und Steuersätze ausreichend hoch sind. Im Zweifelsfall lohnt es sich, jahrelang den EU-Stabilitätspakt und das Grundgesetz zu brechen, damit genug Steuern auf Zinsen (für Anleihen mit fallendem Rückzahlungswert) eingetrieben werden.
e) Man bewerbe Staatsanleihen aggressiv als attraktive Anlageform, die ein deutlich geringeres Risko als Aktien besitzt.
f) Man verhindere eine Grundausbildung von Schülern jeglicher Art in Finanzwissen. Grundwissen in Geldanlage? Physik oder Latein bringen deutlich mehr für den Rest des Lebens...
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Genug der Denkanstöße. Bin gespannt auf die Diskussion.
Gruß, witchdream